Im Zugabteil gegenüber sitzt ein Knirps. Er schaut seinen Eltern zu. Vater und Mutter hantieren mit ihren Smartphones. Der Mann telefoniert kurz mit einem Bekannten, wendet sich seinem Sohn zu, plauscht ein wenig, schliesslich spielen sie zusammen mit dem Handy. Die Mutter schaut hin und wieder kurz auf und blickt dann wieder auf das leuchtende Display.

Kinder und Jugendliche haben’s nicht leicht mit den neuen Medien. Die ganz Kleinen buhlen um die Aufmerksamkeit der Eltern und verzweifeln, die Pubertierenden suchen und verlieren sich in Chats und Gamewelten. Müssen wir unsere Kinder vor der Droge Internet schützen?

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Achten Sie auf die Packungsbeilage

Kinder können sich kaum vorstellen, dass es eine Zeit ohne mobile Kommunikationsgeräte gab. „Waren Handys früher aus Holz?“ wollte mein Sohn vor ein paar Jahren wissen. Heute geben viele Menschen ihr Smartphone kaum mehr aus der Hand, sind beunruhigt, wenn sie es nicht grad finden. Es gehört zu den urbanen Konsumwelt-Bürgerinnen wie der Hammer zum Zimmermann oder die Schere zur Coiffeuse. So ein leuchtendes Gerät in der Hand sieht auch kaum befremdlicher aus, als das aus dem Ohr hängende und über der Brust baumelnde Stethoskop oder die Schutzbrille, die des Schweissers Augen schützt.

Wir versuchen zu verstehen, was sich im oder hinter dem Internet verbirgt. Vielleicht erleben wir dank Internet eine stille Revolution und wir nehmen Technologie an als „…treuen Begleiter, der uns längst zur zweiten Natur geworden ist.“ Möglicherweise verbirgt sich hinter diesem Gedanken einfach Sehnsucht, von der am Ende nur die Sucht übrig bleibt. Einigen wir uns darauf: Das Internet war nicht zu allen Menschen gut. Gewiss, Medienkompetenz könnte helfen: „Klären Sie Ihr Kind auf über einen verantwortungsbewussten Umgang mit dem Handy“ oder „Sie sollten Ihre Kinder auch auf die rechtliche Problematik und auf gesundheitliche Risiken hinweisen.“(1) Gut. Bitte Packungsbeilage beachten und laut vorlesen. Wird gemacht.

Die technologischen Entwicklungen treiben uns vor sich her. Was wir vor einem Jahr noch als dysfunktionales Internetverhalten diskutierten, gehört heute möglicherweise schon zum üblichen Mass an Selbstoptimierung. Wer sich täglich länger als zwei Stunden in sozialen Netzwerken aufhält oder mehr als 500 Onlinefreunde gesammelt hat, dem ist soeben noch hohes Risikoverhalten attestiert worden. Doch wer das Internet mobil nutzt – und das sind immer mehr – zappelt annähernd doppelt so lange im Netz wie jene, die nicht mit Smartphone oder Tablet surfen. Die Gruppe mit erhöhtem Risikoverhalten dürfte also stetig wachsen. Und zwar sehr rasch wachsen. Es sei denn, die Kriterien für hohes Risikoverhalten werden laufend modifiziert.

Zwei Stunden Medienkonsum pro Tag galt einst als Faustregel. Heute bestehen wir allenfalls auf zwei Stunden pro Tag ohne Medien. Wenn überhaupt. Der Medienkonsum – besser der Umgang mit Geräten, die (auch) Medienkonsum ermöglichen – ist essenziell geworden. Als reines Konsumverhalten und die Abhängigkeit davon können wir das nicht mehr definieren. Die Geräte sind multifunktionell, sodass wir nicht mehr einfach von den Medien reden können: Produktion, Konsumption und Kommunikation lassen sich gar nicht mehr scharf voneinander trennen. Selbst der Begriff Multitasking scheint obsolet.

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Spielende Kinder 1931 – lernende Kinder 2013 (2)

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Nicks Freundin feierte kürzlich den 13. Geburtstag mit einem Fest. Nick langweilte sich da fürchterlich. Sie alle seien im Kreis gesessen und hätten sich mit ihren Smartphones beschäftigt. Jeder für sich. Nick hätte als einziger kein Smartphone gehabt und deshalb bei einem Kollegen mitgeschaut. Hin und wieder zeigten sie sich lustige Videos, die sie  kurz bewerteten und kommentierten

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Surfen und etwas schmusen

„Man muss eben noch besser auf die Kinder achtgeben,“ sagt eine Mutter am Ende von Fritz Langs Film M – eine Stadt sucht einen Mörder, nachdem der Kindsmörder verhaftet ist. Ob im Film von 1931 – wo die wirklich schlimmen Gesellen jene sind, die den Pädophilen zur Strecke bringen, nur damit sie wieder ungestört ihren illegalen Geschäften nachgehen können – oder heute; die Bösewichte bleiben. Wir können weder Übeltäter noch Kinder verwahren, es gibt keine allumfassende Sicherheit. Wir bringen Kindern bei, wie und wo sie über die Strasse gehen sollen, wie sie sich unbekannten Menschen gegenüber verhalten können. Wir üben mit ihnen lesen und schreiben. Und wir sagen ihnen, dass niemand gänzlich vor Ausgrenzung oder Verführung gefeit ist.

Gefahren lauern überall. Sie gehören zum Leben – offline wie online. Hier wie dort passen wir uns an, geniessen errungene Annehmlichkeiten und ertragen unangenehme Konsequenzen. Unbehaglich ist uns ob den Unwägbarkeiten der Veränderungen. Insbesondere dann, wenn diese Veränderungen uns zu rastloser Neuorientierung zwingen. Wenn wir denn überhaupt noch Orientierungsbedürfnis haben…

So werden wir bis auf weiteres schmusen. Und surfen. Den allermeisten Jugendlichen scheint’s zu behagen. Ihrer Entwicklung könnte das sogar entgegen kommen. Jugendliche sind immer früher „geschlechtsreif“. Doch erreichen sie die soziale Reife immer später. Dazwischen breitet sich den Jugendlichen ein emotionales (und körperliches) Minenfeld aus. Erst recht in einer sexualisierten Gesellschaft wie der unseren. Nicht alle 13-/14-/15-Jährigen wollen schon geile Schlampe oder cooler Checker sein – oder es je werden. Um das herauszufinden, arbeiten sie experimentierend an ihrer Identität.

In Datings gelingen erste sexuelle Begegnungen. Soziologische Untersuchungen belegen, welche Zwecke Datings erfüllen: Erholung, einschliesslich Unterhaltung und sexueller Stimulation; Statussuche zur Förderung der eigenen Reputation und Popularität; Unabhängigkeit, indem man sich von der Familie abzusetzen trachtet; soziale Fertigkeiten, um die eigene zwischenmenschliche Kompetenz zu fördern; ein Experimentierfeld, insbesondere hinsichtlich zuvor unbekannter sexueller Aktivitäten; und Werbung, im Hinblick auf die mehr oder weniger dauerhafte Wahl eines Partners.“(3) Soziale Netzwerke bilden sozusagen eine Pufferzone, einen (halb-) öffentlichen, (halb-) geschützten Ort, an dem Experimente möglich sind. Auch für die Schüchternen, die Unsicheren und Zaghaften.

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Luis Selbstlern-Semester ist bald zu Ende. Ein halbes Jahr lang war er nur wenige Stunden pro Wochen im Gymnasium. Den Schulstoff musste er sich vor allem daheim erarbeiten. In dieser Zeit sass er oft stundenlang am Computer, hörte Musik, kreierte Musiktracks, hat gechattet und Filme geschaut. Nun fällt es ihm schwer, sich konzentriert auf eine Prüfung vorzubereiten. Nach einem Streit mit seiner Mutter, gibt er für einige Tage den Computer ab. Es gelingt ihm, intensiv für die Prüfung zu lernen. Er gibt im Nachhinein an froh zu sein, dass er eine Zeit lang auf den Rechner verzichten musste. Bestimmt hätte er sonst eine schlechte Arbeit geschrieben.

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Sex als Strategie

David Elkind entlehnte der Sozialwissenschaft die Umschreibung strategische Interaktion und integrierte sie in seine entwicklungspsychologische Arbeit. 1980 beschrieb er verschiedene Interaktions-Typen: „Der erste Typ besteht im gegenseitigen Anrufen. Teenager beweisen sich selbst und anderen ihre Beliebtheit, indem sie einander häufig anrufen. Andere Strategien bestehen etwa darin, lange am Apparat zu bleiben, wodurch andere Anrufer häufig das Besetztzeichen zu hören bekommen…“ Beim zweiten Typ „…können Freundschaften aber zusätzlich strategisch eingesetzt werden, um den eigenen Selbstwert zu demonstrieren. Ebenso wird der eigene soziale Wert dadurch markiert, dass man an öffentlichen Treffpunkten von anderen (an-)erkannt wird, selber aber gewisse andere schneidet, deren Status niedriger ist.“(3) Heute erkennen wir soziale Netzwerke als reichhaltiges Instrumentarium, das solche Interaktionen erleichtert und fördert. Experimentieren mit Nähe und Distanz ist eine Lust, die „…Lust Heranwachsender an der formalen Kodifizierung von Verhalten. Der Teenager kann nun die Gesetze und Kodierungen der Gesellschaft kritisch hinterfragen. Daraus resultiert eine idealistische Leidenschaft, das soziale System von der Gruppe an aufwärts neu zu erarbeiten… „(3)

Wir können nun darüber nachdenken, ob wir die Sozialisierungsbestrebungen junger Menschen nicht nur dem ubiquitären Einfluss hochkommerzieller, popkultureller Erzeugnisse aussetzen wollen, sondern auch noch den von international operierenden Konzernen betriebenen Kommunikations-Technologien. Und damit all den hinreichend bekannten Interventions- und Observationsmöglichkeiten. Ausserdem gibt es nicht wenige Teenager, die sich nicht oder nur sehr schwer vom rein Symbolischen befreien können. Sie wagen es kaum, sich in realen Situationen umzusehen.

Laut einer US-amerikanischen Studie aus dem Jahr 2008 verschicken 20 Prozent der 13- bis 19-Jährigen Bilder oder Videos, auf denen sie nackt oder halbnackt zu sehen sind. Den überwiegenden Anteil bekommen die Partnerinnen oder Partner zugeschickt. Leider tauchen solche Bilder auch ausserhalb der trauten Zweisamkeit auf, zum Beispiel nach der Trennung. Erwähnenswert ist auch, warum Teenager und Jugendliche erotische Bilder von sich verschicken: „…um Spass zu haben oder wegen des Flirtens. 52 Prozent der Mädchen tun dies, um ihrem Freund ein sexy present zu schicken. Über ein Drittel der Mädchen sagt, sie würden dies tun, um sich sexy zu fühlen.“(4) Die (Körper-) Selbstdarstellung dürfte an Bedeutung gewinnen. Gruppenzugehörigkeit lässt sich nicht mehr nur durch Outfits oder Habitus demonstrieren. Der ostentativ sexualisierte Körper gerät mehr und mehr ins Blickfeld.

So werden Stereotype zelebriert, die längst überwunden schienen. Der Geschlechterdifferenz messen die Jugendlichen nämlich hohe Bedeutung zu: Die Jungs zeigen ihre Sixpacks und Muskeln, markieren Coolness, während Mädchen in lasziver Körperhaltung, mit Make-up und verführerischem Blick posieren. Alice Schwarzer spricht nicht unbegründet vom pornographisierten Blick. Körper stylen, begutachten, optimieren – so lautet der Imperativ. Die im social-web gewonnene Bewegungsfreiheit kann in Optimierungszwang umschlagen. Wo Pornographie in den Mainstream schwappt, brauchen wir uns nicht über sich ausbreitende, verzerrte Körperwahrnehmung vieler Jugendlicher zu wundern.

Aufklären, aufklären, aufklären. Begleiten, begleiten, begleiten. Die Eltern sind gefordert. Innehalten tut not, auch mal abschalten: „Zur vielbeschworenen Medienkompetenz gehört es, die Langsamkeit des Denkens zu entdecken und das Recht auf Nichtkenntnisnahme von Informationen wahrzunehmen – und das gegen die Lockrufe von Systemen der Informationsdummheit, die so viel versprechen: dass wir blitzschnell alles über alles erfahren  können und dass alles gleich wichtig und sehr wichtig ist – und wir wichtig werden, wenn wir dergestalt informiert sind.“(5)

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(1) aus „Medienerziehung in der Familie“ von Ulrike Six/ Roland Gimmler

(2) aus „M – eine Stadt sucht einen Mörder“ von Fritz Lang  (1931) und aus „Du sollst spielen“, Der Spiegel Nr. 3/ 2014 „Quest to Learn“-Klassenraum New York City

(3) aus „Die soziale Entwicklung des Kinders“ von William Damon

(4) aus „Porno im Web2.0“ von Petra Grimm, Stefanie Rhein, Michael Müller

(5) aus „Strategien der Verdummung“ herausgegeben von Jürgen Wertheimer und Peter V. Zima

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Weitere Literatur

Surfen, gamen, chatten – Informationen und Tipps für Eltern:

http://www.suchtschweiz.ch/fileadmin/user_upload/DocUpload/Surfen_gamen_chatten_jugendlichen_sprechen.pdf

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JAMES-Studie: Jugend, Aktivitäten, Medien – Erhebung Schweiz:

http://www.psychologie.zhaw.ch/fileadmin/user_upload/psychologie/Downloads/Forschung/JAMES/JAMES_2013/Ergebnisbericht_JAMES_2012.pdf

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