Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Umgekehrt gilt auch: wortreich lässt sich ins Bild hineinreden, was da gar nicht ist. Wer Bewegungsabläufe in Einzelbilder zerlegt, stösst auf weidlich Erkenntnis. So stellte Eadweard Muybridge 1887 dank seiner Reihenbilder fest, dass bei Pferden im Galopp jeweils für einen Bruchteil einer Sekunde alle Viere vom Boden abheben – die Pferde schweben.

Aktuell irritiert ein Foto, das den Präsidenten der Europäischen Kommission Jean-Claude Juncker zusammen mit Bundesrätin Simonetta Sommaruga zeigt. Juncker scheint Sommaruga anzuknabbern. Das Bild ist denn auch ein gefundenes Fressen für die rechte Presse, die allerlei Absurdes und Durchgekautes in das Bild hinein löffelt.

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JunckerSommarugaAlkoholiker und Kettenraucher leckt schüchterne Frau (1)

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Als würden sie für die Regenbogenpresse und ihre ganz eigenen Realitätskonstrukte schreiben, interpretieren Markus Somm in der BaZ (1) und Roger Köppel in der Weltwoche die eingefrorene hundertstel Sekunde eines Bewegungsablaufes. Sie schreiben, was ihre Leserinnen und Leser vermeintlich lesen wollen. Köppel: „Der Chefkommissar warf sich der düpierten Bundespräsidentin an einem Pressetermin ­ mit halbgeöffnetem Mund an die Wange, seine ­Nase an Sommarugas Schläfe gepresst, geschlossene Augenlider wie in Trance, steil abfallende Lippen, das Kinn fest angedockt am Unterkiefer seiner Besucherin. Diese liess den unsittlichen Vorstoss tapfer lächelnd, wenn auch etwas unwillig, über sich ergehen.“ Ist dieses Gefasel schon peinlich genug, titelt er seinen Text auch noch mit Fremdküssen“. Köppel entlehnt diesen Begriff dem mutmasslichen Vergewaltiger und SVP-Politiker Markus Hürlimann, der den Geschlechtsverkehr im Vollsuff mit einer grünen Politikerin als Fremdküssen banalisiert. In Brüssel trete die Schweiz als Vergewaltigungsopfer in Erscheinung, sagt Köppel und ich frage mich, wie lange dieser seine retardierte Adoleszentenkrise denn noch publizierend sublimieren muss…

Auch Markus Somm zieht vom Leder; ein aufdringlicher Alter treffe auf eine mädchenhafte Frau… Somms Triebdurchbruch offenbart dessen ganze chauvinistisch-kleinbürgerliche Haltung. Schliesslich vermag er aber doch noch höhere Stufen der Erkenntnis vorzugaukeln: „Man lässt sich bedrängen, man lässt sich wenn nötig demütigen – und statt sich zu wehren oder die Zumutungen des Partners ins Leere laufen zu lassen, lächelt man gequält wie Sommaruga und bittet die aufgebrachten Beobachter um Nachsicht, als handelte es sich beim Belästiger um einen sonst lieben Onkel, der einem nur Gutes tut.“ Somm meint, das Bild demonstriere die merkwürdige defensive Beziehung, die unsere Regierung zur Europäischen Union pflege. Er ist damit ganz bei sich. Aber kaum bei der Realität.

Nicht nur die Bild-Interpretationen der beiden Politagitatoren sind haarsträubend. Auch ihre Lagebeurteilung zur Umsetzung der Masseineinwanderungs-Initiative ist reine Mutmassung. Wo Köppel die Schweiz als Vergewaltigungsopfer sieht, doppelt Somm nach mit „Missbrauch in Brüssel“. Somm und Köppel sind verbissene EU-Gegner. Beide verteilen sie fast identische Prospekte. In populistischer Manier schreiben sie immer wieder die gleichen Geschichten fort. Das kontaminierte Foto bietet willkommenen Zündstoff für eine weitere PR-Petarde weit ab von jeder nüchternen Berichterstattung oder Einordnung. Wirklich abgespielt hat sich nämlich dies:

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Juncker und Sommaruga – Medienauftritt in Brüssel

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Nämlich gar nichts. Offenbar haben weder Somm noch Köppel einen Ruf zu verlieren. Sie können schreiben, was sie wollen. Die Horde folgt blindlings. Die äussere Welt ist die Blaupause, dient nur noch als Rohstoff, um bereits vorhandene Geschichten weiterzuschreiben. Das Verfahren ist bekannt:

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Echo2JungenOb Simonetta oder Charlene – Befunde auf Bestellung

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Beide Autoren kommentieren. Sie beziehen sich nur am Rand auf das, was sich tatsächlich zugetragen hat. So erwähnt Somm, Sommaruga hätte das Treffen mit Juncker als „schwierig“ empfunden. Nichts weiter. Mit der Verlagerung auf die Gemütslage, auf das Empfinden, überbrückt Somm die Leere. Eigentlich gäbe es nichts zu berichten. Das Foto allein genügt Roger Köppel, um der Bundesrätin zu unterstellen: „Sommaruga kapituliert vor Junckers Vereinnahmung“. Genauso gut hätte Köppel behaupten können: Sommaruga schwanger vom Fremdküssen!

Es ist nur noch absurd. Egal. Hier geht es nicht um einen Service für Leserinnen und Leser. Hier geht es um die Polarisierung zwischen dem Bundesrat – der einen Auftrag zu erfüllen hat – und dem Volk – das den Auftrag erteilte, die Masseinwanderung einzudämmen. Perfide schürt Köppel den Zwist: „Wenigstens im Wahljahr soll der Anschein gewahrt bleiben, dass dieser Bundesrat den Volkswillen respektiert.“ Und Somm fragt scheinheilig,  „…ob die schweizerische Regierung selber längst der EU beigetreten ist und nur wir nicht davon erfahren haben.“ Das ist Wahlkampf. Ich frage mich, was Chefredaktoren wie Markus Somm und Roger Köppel noch mit Journalismus zu tun haben! Ich frage micht nicht erst seit dieser Woche.

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(1) in „Momentaufnahmen des Zerfalls“ von Markus Somm in der BaZ

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